Selbsthilfegruppe für Personen mit Spätfolgen nach Kinderlähmung
(geg
ründet 1991)
 
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Polio-Spätfolgen - Welche Gymnastik?

Allgemeinrezepte kann es nicht geben

Möglichst erhalten was an Kraft und Funktion vorhanden ist. Darauf muß die Physiotherapie bei Personen mit chronischen und sekundären Schäden infolge einer früheren Polioerkrankung konzentriert sein. Training zur Verbesserung der Ausdauer ist außerordentlich wichtig.

Dagegen kann Training zur Kraftsteigerung, gar wenn es forciert wird, mehr schaden als nutzen und sollte unbedingt fachärztlich überwacht werden.

Schmerzen an Wirbelsäule, Gelenken, Sehnenansatzpunkten und in den Muskeln, verursacht vor allem durch die Auswirkungen veränderter Statik und lange bestehende Fehlhaltungen und Fehlbelastungen, sind meist der Anlaß, den Arzt aufzusuchen. Aber auch ungewöhnliche Müdigkeitsattacken und rasche Erschöpfung bei körperlichen und seelischem Streß sowie unvermutet auftretende neue Muskelschwächen kristallisieren sich Jahrzehnte nach der Erkrankung mit oder ohne erkennbare Lähmungsfolgen als Anzeichen für das sogenannte Post-Polio-Syndrom (PPS) heraus.

Wenn Spätfolgen der Infektionskrankheit "Spinale Kinderlähmung (Poliomyelitis)" dem angesprochenen Arzt bekannt sind und nach sorgfältiger Abklärung andere Krankheitsursachen nicht vorliegen, wird er als erstes raten, langsamer zu treten und tagsüber öfter kurze Pausen zu machen. Als nächstes müssen Reizzustände am Bewegungsapparat behandelt und eventuell zur Entlastung in Anspruch genommen werden. Sofort eine Kur zu verordnen hat nur Sinn, wenn in der betreffenden Klinik Erfahrungen mit PPS-Patienten vorliegen oder man dort auf medizinischer Seite bereit ist, sich mit der (meist englischen) Fachliteratur über Spätfolgen der Polio ernsthaft zu befassen. Daran mangelt es im deutschen Sprachraum sehr. Und in der Medizinerausbildung und an Krankengymnastik-Schulen wird kaum oder überhaupt nicht von einem Krankheitsbild Notiz genommen, das allein in Deutschland auf weit über zehntausend Personen in Altersgruppen von Mitte Dreißig aufwärts zutreffen dürfte. Erst die 1961 begonnenen Schutzimpfungen machten den Massenerkrankungen ein Ende.

Vorbeugen durch regelmäßige ambulante Physiotherapie mit gezielten passivem und aktivem Durchbewegen von Muskulatur und Gelenken, dazu jährlich ein drei- bis vierwöchiger Aufenthalt in einer Reha-Einrichtung wäre, so Dr. Thomas Lehmann (Bern), die wirksamste Behandlung. Sie wurde bei vielen bereits versäumt. Das zeigt ein Vergleich zwischen dem Gros der jetzt von Spätfolgen geplagten und einer Gruppe Polios, die unter erfahrener ärztlicher Kontrolle ihre körperlichen Probleme über Jahre wahrnahmen und lösen ließen. Nur wenige erfuhren entscheidende Arbeits-, Freizeit- und Gesundheitseinbußen.

"Nicht trotz sondern mit der Behinderung leben" - dieses Motto von Sunny Roller am Klinikum Ann Arbor (Michigan, USA), die jetzt ganz auf den Rollstuhl angewiesen ist, erleichtert die unumgängliche Anpassung der Lebensweise von Menschen mit Polio-Spätfolgen ungemein. Das bedeutet: Das Tagesprogramm gut planen, immer wieder Ruhepausen einlegen, Hast vermeiden, körperliche Leistungsgrenzen rechtzeitig respektieren, in aufregenden Situationen möglichst innere Ruhe bewahren.

Die von Natur aus leistungsorientierten und gerne spontan handelnden Polios wehren sich anfangs dagegen, wollen sich nicht in ein "Aktivitäten-Korsett" zwingen lassen. Auf Vorschläge, Hilfsmittel zu nutzen, reagieren sie meist reserviert. Hatte man doch nach oft jahrelanger Plackerei im Anschluß an die Erkrankung Stock, Schiene oder Rollstuhl vielleicht ganz in die Ecke stellen können! Aber jetzt gebietet einfach die Vernunft, sich je nach Lage des Falles mit orthopädischen Hilfsmitteln, vor allem aber regelmäßiger Physiotherapie wieder anzufreunden. Auch eine mechanische Atemhilfe für die Nacht kann notwendig werden, wenn im Schlaf der Gasaustausch unzureichend ist und es zu einer schleichend fortschreitenden Unterbeatmung kommt. Anzeichen dafür können hartnäckige morgendliche Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit trotz ausreichender Nachtruhe, zunehmender Leistungsabfall und unerklärlicher Bluthochdruck sein.

Sport wurde für viele Polios ein nützliches Hobby. Nur wurde oft zu wenig bedacht, welche Maßstäbe anzulegen seien. So mag Überanstrengung in jenen Jahren, womöglich schon zu rigoroses Training unmittelbar nach der Erkrankung, heutige neue Schwächezustände vorbereitet haben. Ihrer Defizite in neuromuskulären Funktionen waren sich die meisten Polios vermutlich gar nicht bewußt, wollten überdies Leistung und Können demonstrieren. Aber auch Ärzte und Therapeuten hatten Schwierigkeiten, von der Erkrankung geschwächte Muskeln zu identifizieren. Was beim herkömmlichen manuellen Test der Muskelkraft normal erschien, erreichte bei quantitativer Messung im Forschungslabor u. U. nur 50%, manchmal auch nur 20% der normalen Leistung.

Die Beurteilung der Muskelkraft verlangt vom Physiotherapeuten besondere Einfühlung und gründliches Beobachten. Aufgrund ihrer Erfahrung schlägt M. Weiss (Canton, Ohio) den manuellen Kraft- und Ausdauertest vor, der an einem bestimmten Muskel drei- bis viermal hintereinander vorzunehmen ist. Der erste und der letzte Wert sind entsprechend einer Skala eins bis fünf (nach Kendal) zu protokollieren. Geräte zur Leistungsmessung führen infolge unwillkürlichen Einsatzes von Kompensationsmuskeln durch Probanden leicht zu Fehlmessungen. Die z. B. für die Sportmedizin gültigen Leistungsgrade 1 bis 5 können für Polios nicht herangezogen werden. (Stufe 1 entspräche 10%, Stufe 2 ca. 25%, Stufe 3 etwa 50% einer normalen Muskelleistung, was bedeutet, daß der Proband zum Ausführen einer Bewegung das Gewicht des betreffenden Körperteils gegen die Schwerkraft überwindet). Aber bei Poliopatienten funktioniert, wie Dr. Beasley 1961 ermittelte, in einem Muskel der 3. Leistungsstufe nur 9,1%, in der 2. Stufe durchschnittlich 2,5% und in der Stufe 1 nur 1% der Muskelfasern. In der Stufe 4 sind es 42,5%, in der Stufe 5 nicht wie erwartet, 100%, sondern zwischen 53,5% und 100%.

Schwimmen erwies sich auch jetzt als hilfreiche Bewegungsart, sofern die Arme kräftig genug sind. Es ist zwei bis dreimal pro Woche für jeweils 20 bis 30 Minuten in Rücken und Seitenlage, mit Kraulen und Gehen im Schwimmbecken bei Temperaturen nicht unter 28 Grad Celsius und nicht über 33 bis 34 Grad Celsius angebracht. Der Nebeneffekt, Stärkung von Herz- und Kreislauffunktionen, ist so besser als z. B. Jogging oder einem Heimtrainer (falls dafür die Beinmuskulatur überhaupt kräftig genug ist) zu erreichen. Vom Üben mit Maschinen ähnlich jenen in Fitness-Studios raten Polio-Therapeuten meist ab, weil die unterschiedliche Leistungssituation der Muskeln eines Polio-Patienten nicht berücksichtigt werden kann. Schwache Muskelgruppen werden leicht überfordert und so zusätzlich geschwächt.

Zur Unterstützung der Herz- und Lungentätigkeit sind selbst bei den jetzt vorhandenen Einschränkungen modifizierte Aerobic-Übungen möglich, wenn die Rumpfmuskulatur ausreichend funktionsfähig ist. Zuvor ist jedoch zu klären, ob Arm- und Beinmuskulatur 20 Minuten Aktivität ohne Leistungsabfall und Ermüdung vertragen und nicht mit Muskelkater reagieren. Hier haben sich Intervallprogramme bewährt - d.h. nach zwei bis drei Minuten üben folgt jeweils eine Pause von einer Minute. Allgemein gilt: Üben bzw. Aktivität bis zu 50% der größten individuellen Leistungskapazität darf nicht ermüden und keine Schmerzen verursachen - weder an Gelenken noch an Muskeln. Das Ziel: Der Betreffende sollte sich ohne außer Atem zu geraten, um einiges über den für das Alltägliche erforderlichen Grad hinaus anstrengen können.

Was der eine ohne weiters bewältigt und seine Ausdauer steigert, kann jedoch den anderen völlig überfordern. Dessen Pensum mag schon mit den alltäglichen Prozeduren der Toilette am Morgen und Abend, An- und Auskleiden und notwendigen Verrichtungen tagsüber erfüllt sein. Ihm könnte z. B. mehrmaliges Anspannen aller verfügbarer Muskulatur und ausgiebiges Recken im Bett vor dem Aufstehen mit der Zeit etwas Kräftigung verschaffen. Auch läßt sich die Badewanne recht gut als "Übungsraum" benutzen, besonders dann, wenn ein an die Wasserleitung anschließbarer hydraulischer Lifter vorhanden ist. Leichte Widerstandsübungen sind z. B. durch Anhängen eines bei Kindern häufig gebrauchten Schwimmflügels mit geringer Luftfüllung an Fuß- oder Handgelenk möglich.

Kräftigungsübungen im Trockenen mit leichtem Widerstand müssen nach Prof. Jacquelin Pery (Los Angeles) stets unterhalb der größten Muskelleistungskapazität bleiben. Erreicht diese nur Stufe 3 oder weniger, sind sie nicht angebracht. Falls undurchführbar, soll zur besseren Durchblutung des Muskelgewebes mit kurzen kräftigen Anspannen (60 bis 70% der Leistungskapazität) mit bis zu fünf Wiederholungen begonnen werden. Sobald das Üben leichter geht, steigert man auf zehn Wiederholungen, gibt später noch etwas mehr Widerstand. Dies erfordert Geduld, Beständigkeit und sorgfältiges Beobachten der Muskel und Gelenkreaktionen seitens des Patienten und des Therapeuten.

Drei Regeln sind unbedingt zu beachten: Hat der Patient das Gefühl, das Üben tue ihm gut - fortsetzen. Fühlt er sich schlechter - auf die Hälfte reduzieren. Fühlt er sich auch dann noch schlecht - aufhören, sich etwas anderes überlegen. Perry und Mitarbeiter machten die Erfahrung, dass dieses Programm 40% der Patienten zu mehr Ausdauer bzw. Kraftgewinn um ½ Grad verhalf. Bei 30% gab es keine Veränderung, bei weiteren 30% sogar eine Verschlechterung. Diese Gruppe beanspruchte die Muskulatur schon durch die Alltagsaktivitäten bis zum äußerten.

Auf Anhieb vermag der Arzt oder Therapeut nicht zu sagen, ob Muskelschwäche und rasche Ermüdung auf Unter- oder Überforderung zurückzuführen ist, ob muskuläre oder chronische, generelle Müdigkeit vorliegt. Das Dilemma bei Personen mit alter Polio ist der unsymmetrische Befall der großen Motoneuronen in den Vorderhörnern des Rückenmarks und im Hirnstamm im Akutstadium der Erkrankung. Die völlige oder teilweise Zerstörung solcher Zentren für die Impulsübertragung an Skelettmuskeln führte zur kompletten oder teilweisen Lähmung der betreffenden Muskelgruppen. Durch Anpassungs- und Kompensationsprozesse kamen dennoch bei zahlreichen Patienten mit dem Training Muskelfunktionen teilweise sogar ganz zurück - wenn auch nicht im ursprünglichen Leistungsgrad. Jetzt jedoch ist in Folge solcher Prozesse die Masse und Struktur des Muskelgewebes - hinsichtlich Mengenverhältnis, Ansprechbarkeit und Stoffwechselverhalten der Muskelfasertypen - gegenüber dem Zustand unmittelbar nach der Erkrankung z. T. erheblich verändert.

Deshalb ist vor Beginn einer Übungstherapie langsames, vorsichtiges Herantasten an den realen Zustand so wichtig. Sie sollte durch gezielte und langsame, nie ruckartige Dehnung, vielleicht kombiniert mit gezielter Elektrotherapie, vorbereitet werden. Die Anwendung der "Propriozeptiven Neuromuskulären Fazilitation" (PNF) mit so genannter Komplexbewegung spielt bei Poliopatienten eine wichtige Rolle. Der um 1950 von dem amerikanischen Neurophysiologen H. Kabat entwickelten, inzwischen erheblich modifizierten Methode liegt die Erkenntnis zugrunde, dass jede Bewegung mehrere Komponenten hat und durch die ganze Bewegungsketten stimuliert werden können. Dabei werden reizaufnehmende Organe und Zellen in der Skelettmuskulatur, in Muskelsehnen und Gelenkkapseln ("Propriorezeptoren") eingeschaltet.

Auf diesem Wege lassen sich paretische (teilgelähmte) Muskelketten aktivieren. Ursprünglich "für Gelähmte" entwickelt, wurden z. B. 1992 einige amerikanische Olympiasportler wegen überanstrengter, geschwächter Muskeln und Gelenke mit dieser Methode erfolgreich behandelt.

Verfasserin: Gertrud Weiss, Rosenheim